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Paul erinnert sich an die Reise nach Lebedjan

Wir saßen mit meinem Bekannten Frank bei einem Tässchen Kaffee zusammen, als er mich plötzlich fragte, wie gut ich die russische Sprache beherrsche. Ich lächelte und antwortete: „Ja, ich denke, nicht schlecht. Warum die Frage?“ Und er erzählte, dass sein Kollege, ein älterer Mann, seinen Vater sucht, der im 2. Weltkrieg irgendwo auf dem Gebiet Russlands umgekommen oder gestorben ist. Jahrzehntelang haben sie ihn über das Rote Kreuz, die Gesellschaft der Veteranen und einige andere Organisationen, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe, gesucht. Aber jetzt vor kurzem kam ein Brief mit dem Absender des FSB Russlands. Das war die erste positive Antwort, die er seit der ganzen Zeit der Suche erhalten hat. Frank schlug mir vor, eine Reise nach Russland auf den Spuren dieses Briefes zu organisieren.

Mich interessierte die Sache sehr und ich stimmte zu. Noch am gleichen Abend wurde ich aus Berlin angerufen. Es war der mir bis dahin unbekannte Mann, der seinen Vater sucht. Er stellte sich als Joachim vor. Joachim wohnte in Berlin und arbeitete in Bonn in einem großen Unternehmen.

Ich werde die Reisevorbereitungen, mit denen ich begann, nicht im Einzelnen beschreiben. Ich sage nur so viel, dass ich die Visa beantragt, die Flugtickets gekauft und die Hotelplätze reserviert habe. Und so kam der Tag des Abflugs. Am 17.Mai um 10 Uhr fuhren wir mit Frank zum Flughafen. Die Tickets wurden kontrolliert, das Gepäck abgefertigt, die Kontrolle der Pässe erfolgte und schon saßen wir im Flugzeug. Mit Gesprächen während des Fluges verflog die Zeit im wörtlichen Sinne unbemerkt. Die Stewardess bat darum, die Sicherheitsgurte anzulegen, unser Flugzeug ging zur Landung über und landete nach wenigen Minuten auf dem Flughafen Domodedowo. Ich beobachtete meinen Begleiter. Das erste Mal in Russland. Ich versuchte, alles was um uns vorging, mit seinen Augen zu sehen. Ohne besondere Probleme passierten wir alle Kontrollpunkte, erhielten unser Gepäck und warteten auf Joachim, der einige Minuten später aus Berlin in Moskau ankam. Moskau empfing uns mit sehr warmen, sonnigen Wetter. Das munterte auf und hob die Laune.

Joachim haben wir im Wartesaal getroffen. Das war ein sehr angenehmer, offener und sympathischer Mensch. Wir gingen in ein Café und beratschlagten die geplanten nächsten Schritte. Wir mussten in die Stadt Lebedjan im Lipezker Oblast fahren. Wir entschieden uns, mit dem Zug zu fahren. Ungefähr nach einer Stunde waren wir am Bahnhof und zu meiner großen Überraschung hatten wir sehr schnell die Fahrkarten gekauft. Mir waren die langen Schlangen an den Kassenschaltern zu sowjetischen Zeiten in Erinnerung. Das war jetzt nicht mehr so. Der große Wartesaal des Pawletzker Bahnhofs erschien irgendwie leer. Entweder hatte die Reisesaison noch nicht begonnen oder es hatte sich überhaupt in den letzten Jahren viel geändert. Als die Abfahrt angekündigt wurde, gingen wir auf dem Bahnsteig an einem langen Zug entlang und suchten unseren Waggon. Das war für mich sehr heimatlich, bekannt. Ich war sehr aufgeregt. Unbemerkt beobachtete ich meine Begleiter, weil ich verstehen wollte, was sie jetzt fühlten und was sie dachten.

Dann waren wir in unserem Abteil. Meine Begleiter waren noch nie in Russland. Ihnen erschien alles wundersam, solche Züge hatten sie noch nie gesehen und waren darüber hinaus noch nie in ihnen gefahren. Ich erkundigte mich beim Instrukteur des Zuges nach den Gewohnheiten der Nutzung. Für unterwegs kauften wir ein wenig zu essen und etwas zum Tee. Dann kam der Moment, in dem sich der Zug in Bewegung setzte. Zu Beginn schien es, als würde sich der Bahnsteig bewegen. Dann ein plötzlicher Wechsel. Ach, nicht der Bahnsteig, sondern der Zug bewegte sich. Wir sprachen leise, die Erregung war spürbar. Wir zogen uns um, irgendetwas Sportliches, geeignet für Reisen und ließen uns auf den Liegen nieder. Zu Beginn fuhr der Zug langsam an grauen, trostlosen Bauten vorbei. Lager, irgendwelche verlassenen Gebäude. Als wir endlich Moskau verließen, eröffnete sich vor den Fenstern die wunderschöne Landschaft der Moskauer Umgebung. Jeder von uns ging sicherlich seinen eigenen Gedanken nach. Ich weiß nicht, worüber meine Kameraden nachdachten; meine Gedanken gingen in die ferne Jugend zurück. Ende der 70iger Jahre studierte ich in Moskau und alles um mich herum erinnerte mit beklemmendem Schmerz an das Vergangene. Diese Erinnerungen begleiteten mich während der ganzen Fahrt.

Ich ging heißes Wasser holen. Die Zugbegleiterin sah dies und bot mir liebenswürdig Tee an, nicht einfach nur Tee, sondern in Gläsern mit metallischen Glashaltern. Nostalgie strömte auf mich ein. Kann es etwas Schöneres geben, als unterwegs zu sein und zum Rattern der Räder Tee zu trinken, am Zucker zu knabbern und noch dazu aus solchen Gläsern?

Es begann, dunkel zu werden. Im Abteil wurde die Beleuchtung eingeschaltet. Das Radio spielte irgendeine Musik. Voller neuer Eindrücke, müde vom Tag, legten wir uns schlafen. Nachdem wir noch ein wenig geredet hatten, verstummten wir. Auch ich schlief irgendwann ein. Am frühen Morgen trafen wir am Bahnhof Jelez ein. Der Zug stand, als ich aufwachte. Aus dem Fenster war ein schmaler rötlicher Streifen des Sonnenaufgangs zu sehen. Ringsumher war es still. Etwas sehr angenehmes, friedliches erfüllte meine Seele. Nachdem ich das Fenster des Abteils ein wenig geöffnet hatte, spürte ich die morgendliche Frische.

Ich erfuhr, dass wir an einen anderen Zug angekoppelt werden. Wir mussten über eine Stunde warten. Der Morgen kam schrittweise zu seinem Recht. Wir standen auf und gingen gemächlich frische Luft schnappen. Einige Waggons unseres Zuges hatte man auf das Abstellgleis geschoben. Einer der anderen Mitreisenden schloss sich uns an. Im Gedächtnis ist der Duft des blühenden wilden Flieders geblieben.

Der Tau war noch nicht abgetrocknet und winzige Wassertropfen hingen überall: an den Blättern, an den Blumen, an den Grashalmen. Unweit war das Bahnhofsgebäude sichtbar. Der Versuch, es mit der Kamera festzuhalten, endete erfolglos. Als ein Milizionär, der in der Nähe stand, sah, dass wir fotografieren wollten, verbot er dies. Auf die Frage „Warum?“ antwortete er: „Strategisch wichtiges Objekt“. Wir waren ein wenig erstaunt und enttäuscht. Wir gaben auf und nahmen erneut in unserem Waggon Platz. Bald wurde die E-Lok angehängt. Gefrühstückt haben wir, als wir schon wieder fuhren. Und wieder zog die Landschaft Russlands vorbei. Eine Pracht! Gegen 11.00 Uhr kamen wir in der Stadt Lebedjan an. Über dieses Städtchen erzähle ich weiter unten. Wir fuhren zum Hotel mit dem Autobus Nr. 1. Andere Buslinien gab es dort allerdings auch nicht. Das Hotel stellte sich als altes Gebäude mit sehr dicken Wänden dar. Wir wurden schon erwartet, da ich das Zimmer von Deutschland aus gebucht hatte. Nachdem wir eingezogen waren, machten wir uns ein wenig frisch und, keine Zeit verlierend, gingen wir los, um die Stadt kennenzulernen. Joachim war ungeduldig. Er war sehr aufgeregt. Er wollte so schnell wie möglich etwas erfahren und sehen. Er wiederholte ständig: „Hier war mein Vater! Seine Augen haben das gesehen!“ Wir hatten nur einen kleine Skizze einer Karte sowie eine kurze Beschreibung der Stadt, gefertigt von einem ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen, den Joachim irgendwo in Deutschland kennengelernt hatte. Dieser Kriegsgefangene war auch in dieser Stadt, jedoch bereits zum Ende des Krieges. Er hatte Glück, überlebte und kehrte nach Hause zurück. Als wir an der Stelle ankamen, an der sich damals das Kriegsgefangenenlager Nr. 45 befand, begannen wir die Vorbeigehenden zu fragen, ob sie nicht ältere Einwohner kennen würden, die sich an irgendetwas aus diesen alten Zeiten erinnern. Solche gab es nicht. Die Leute, die hier seit 40 bis 50 Jahren leben, konnten sich natürlich an nichts erinnern. Denn seit dieser Zeit sind 62 Jahre vergangen. Und über Beerdigungen wusste auch niemand etwas. Alle Versuche mit irgendjemandem zu reden, waren nicht von Erfolg gekrönt. Plötzlich kam mir ein Gedanke: In jedem Städtchen gibt es doch ein Heimatmuseum! Von Vorübergehenden erfuhren wir die Adresse des Museums. Unsere „Troika“ ging dort hin. Keine 10 Minuten zu Fuß und schon standen wir vor einem kleinen Haus mit einem Schild „Heimatmuseum der Stadt Lebedjan“. Besucher gab es keine. Nur zwei Personen befanden sich im Gebäude, der Direktor des Museums namens Anatolij und sein Stellvertreter, eine junge Frau, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Nachdem wir uns kurz vorgestellt und den Grund unseres Besuches erklärt hatten, wurden uns sehr viele Informationen zur Verfügung gestellt. Ich möchte noch ein Detail anmerken. Selbstverständlich haben wir uns untereinander auf Deutsch verständigt und ich habe übersetzt, im Rahmen meiner Kräfte und meines Wissens. Überall trafen wir auf eine wohlwollende und entgegenkommende Haltung und die Bereitschaft, uns bei unseren Nachforschungen zu helfen. Dies hat meine Begleiter angenehm beeindruckt, umso mehr als wir nicht irgendein Grab, sondern das Grab eines deutschen Kriegsgefangenen suchten. Mich hat das außergewöhnlich gefreut und Anlass gegeben, auf meine, wenn auch schon vor langer Zeit verlassene Heimat, stolz zu sein.

Am Abend des ersten Tages gingen wir ein wenig spazieren, atmeten die berauschende abendliche Luft und gingen in ein Restaurant. Nachdem wir gegessen hatten, gingen wir schon im Dunklen in das Hotel. Das Hotel war in einem alten Gebäude, dem vom äußeren Bild her anzusehen war, dass in ihm irgendwann einmal gebildete Leute gewohnt haben müssen. Wir unterhielten uns mit den Angestellten des Hotels und sie erzählten uns, dass in diesem Haus der russische, später sowjetische Pianist und Komponist K.N. Igumnow geboren wurde und viele Jahre gelebt hat. Und darauf waren sie hier stolz. Der erste Tag unseres Aufenthalts in Lebedjan ging zu Ende. Ein wenig müde gingen wir ins Bett. Als ich im Bett war, durchfuhr mich ein Schreck wie ein Stromschlag. Irgendeine unangenehme Vorahnung kam in mein Bewusstsein. Ich sprang auf, schaute in meinen Koffer und unter mein Bett … und mir wurde klar, dass ich im Zug meine Schuhe vergessen hatte. Nachdem ich noch in Moskau die Schuhe gewechselt hatte, hatte ich sie unter das Tischchen im Abteil gestellt. Und dort waren sie geblieben. Natürlich ärgerte ich mich. Ich hatte jetzt nur die Sportschuhe. Ich dachte: Was mache ich auf dem Rückweg? Wir hatten geplant, für einen Tag in Moskau Station zu machen, ich wollte den Jungs auf jeden Fall die Stadt zeigen. Darüber schlief ich ein, unfreiwillig musste ich den Verlust akzeptieren, obwohl ich sie extra für die Fahrt gekauft hatte.

Am nächsten Morgen standen wir früh auf und tranken Kaffee. Ein Frühstück wurde uns im Hotel nicht angeboten. Zuerst war ich überrascht, dann habe ich die Rubel in Euro umgerechnet und ich schämte mich ein wenig vor mir selbst. 8 Euro pro Tag und Person. Konnte da von einem Frühstück überhaupt die Rede sein? Wir gingen erneut auf die Suche nach den Gräbern. Unweit der Stadt war ein Friedhof, auf dem während des Krieges nur die im Lager gestorbenen Kriegsgefangenen beerdigt wurden. Ich hatte bereits erwähnt, dass wir eine Skizze und einen Stadtplan hatten (auf der Fotografie zu sehen). Natürlich haben wir genauere Koordinaten im Museum erhalten. Wir gingen zu Fuß und nach einer Stunde hatten wir die Stelle erreicht, an der sich der Friedhof der Kriegsgefangenen befand. Wir fanden uns auf einer großen Lichtung wieder, die von Bäumen umgeben war. Indem wir uns durch dichtes Gestrüpp drängten, gingen wir hierhin und dorthin. Grabhügel gab es schon lange nicht mehr. Der Friedhof war seit langem von niemandem mehr besucht worden. Aber plötzlich stießen wir auf eine Tafel mit der Aufschrift „Opfer des Faschismus. Beerdigt sind hier 764 Personen“. Ich übersetzte die Inschrift. Und ich sah, dass sich der Ausdruck der Augen und die Gesichtsfarbe von Joachim änderten. Er wiederholte: “Ja, ja, ja, das ist richtig. Mein Vater, mein Lieber. Er ist ein wirkliches Opfer des Faschismus. Er hat sich dagegen gewehrt, zu kämpfen und nach den Erzählungen der Mutter war er gegen diesen Krieg. Aber offensichtlich war er gezwungen“... Dann kam ein sehr schwerer Augenblick. Es sind schon einige Jahre vergangen, aber bis heute steht vor meinen Augen dieses Bild... Joachim hatte noch in der Stadt Rosen gekauft, 20 oder 30 Stück, auf jeden Fall viele. Frank und ich gingen zur Seite, aber er kniete nieder und verharrte lange Zeit so. Ich sah seine zum Boden geneigte Silhouette im hohen Gras. Wir entfernten uns soweit, dass weder Worte noch das leise Schluchzen zu hören war. Nach 62 Jahren der Ungewissheit und des Suchens verabschiedete sich der Sohn von seinem Vater, den er nie gesehen hatte. Die Szene war sehr berührend. In solchen Momenten denkt man, wie sonst nie, über die Sinnlosigkeit von Kriegen nach, über das grenzenlose Leid, das sie bringen. Zerstörung, Tod, Waisen und Witwen, unermessliches Leid. Wir standen schweigend und warteten. Die hohen Bäume, die die große Lichtung umgaben, standen wie Wachen. Es war windstill und sonnig, nichts störte die Stille und die Ruhe und nur der Gesang der Vögel erfüllte von allen Seiten die Luft.

Joachim stand auf und kam uns langsam entgegen. Zurück gingen wir schweigend an einem Kornfeld entlang, dann durchquerten wir eine Schlucht und um den restlichen Weg abzukürzen, gingen wir auf einem Eisenbahndamm. Mir schien es, dass wir alle drei an dasselbe dachten.

Die Stadt Lebedjan, in die wir gereist waren, liegt am Ufer des Don, genauer des Stillen Don. Im Grün der Gärten und Alleen versinkend, erschien er mir ungewöhnlich schön und irgendwie einzigartig. Einige Tage vor unserer Ankunft hatten die Mai-Feiertage stattgefunden. Die Bäume an den Straßenrändern waren geweißt worden, alles war ringsherum sehr sauber. Sogar die Trinkwassersäulen waren frisch gestrichen. Das alles sprang ins Auge. Die Leute waren irgendwie besonders freundlich. Auf den Wegen und Straßen habe ich keine ausländischen Autos gesehen. Ein Gefühl, als ob wir in die Sowjetunion der 80iger Jahre geraten wären.

Ich war darauf gefasst, dass ich an einem beliebigen Haus vorbeigehend, Musik aus seinen geöffneten Fenster hören würde: „ Die Kälte streicht durch die Tore, auf den Straßen großer Lärm. Guten Morgen, geliebte Stadt, ...“.Ja, ja das fehlte noch.

Als wir im Museum waren, habe ich einige Fotos gemacht. Überhaupt muss ich sagen, dass mich das alles derart berührte, so dass ich gedanklich mal in den Zeiten des Krieges, mal in der Kindheit oder auch in der Sowjetunion der 70 - 80iger Jahre war. In solchen Situationen versuchte ich auf die Ereignisse mit den Augen meiner Begleiter bzw. der Museumsange-stellten zu sehen. Ich dachte darüber nach, wie wohl die kriegsgefangenen Deutschen, als sie im Lager ankamen, das alles gesehen hatten. Die Kriegsgefangenen führten alle möglichen Arbeiten aus. Der Direktor zeigte uns dicke Mappen mit Listen der Namen der Kriegsgefangenen.

Die Kunde darüber, dass wir aus Deutschland gekommen waren, um das Grab eines gefangenen Deutschen zu suchen, verbreitete sich rasch in der Stadt. Auf jeden Fall erfuhren davon diejenigen, die sich dafür interessierten und was uns besonders in Erstaunen versetzte war, dass die Menschen begannen, uns alle möglichen Geschichten zu erzählen. Z. B. darüber, dass sich eine Frau als kleines Kind während des Krieges am Auge verletzt hatte und wie ein gefangener deutscher Arzt sie unter gefechtsfeldähnlichen Bedingungen operierte. Eine andere Geschichte: Das Jahr 1944, überall wütete der Hunger. Die einheimische Bevölkerung hatte nicht genug Lebensmittel, alles ging an die Front. Eines Tages wurde im Winter gefrorener Fisch in das Lager gebracht. Als die gefangenen Deutschen den Waggon entluden, haben sie Fische über den Zaun und den Stacheldraht geworfen und die Kinder, die hinter der Abgrenzung standen, trugen sie nach Hause und kamen erneut angelaufen. Joachim liefen die Tränen, als es das alles hörte. Ich selbst war ebenfalls sehr gerührt. In diesen Erzählungen waren weder Hass, noch Bitterkeit, noch Beschimpfung zu spüren.

Am dritten Tag war uns dieses kleine Städtchen schon sehr vertraut geworden. Wenn wir uns nicht mit den Museumsangestellten trafen, gingen wir durch die Straßen und den Park spazieren. Wir saßen im Café und unterhielten uns mit den Leuten. Es gab so viele Eindrücke, die bald durcheinander gingen und es wurde notwendig, sie aufzuschreiben. Nach all dem, was wir in diesen drei Tagen in Lebedjan erlebt hatten, fühlten wir uns erschöpft.

Nachdem wir uns im Hotel verabschiedet hatten, setzen wir uns wieder in den Bus und fuhren zum Bahnhof. Die Ankunftszeit unseres Zuges war 17.00 Uhr. Und so standen wir an einem der warmen Maitage zu dritt erneut auf dem Bahnsteig. Wir waren glücklich, die Reise war erfolgreich und nur eine leichte Traurigkeit über den Abschied von diesem, bis vor kurzem noch völlig unbekannten, aber jetzt so vertrautem Städtchen lag irgendwie in der Luft. Eine besondere Atmosphäre ist den Orten eigen, an denen Züge fahren und Menschen mit Taschen und Koffern irgendwo hineilen, sich verabschieden, sich treffen. Ich gebe zu, dass mir das Kolorit von Bahnhöfen und Flughäfen besonders gefällt. Obwohl ich schon in vielen Ländern war, fühle ich keine Übersättigung, ich möchte wieder und wieder reisen. Diese Reise war für mich aus verständlichen Gründen eine besondere, aber das, was in der nächsten halben Stunde passieren sollte, war ihre Krönung.

Wie im Film tauchte aus einer Biegung die Lokomotive auf, die die Waggons hinter sich herzog. Im Lautsprecher wurde das Gleis angesagt, auf dem unser Zug einfuhr. Nachdem wir die Stufen in den Waggon hinaufgestiegen waren, gingen wir zu unserem Abteil. Die Schaffnerin überprüfte die Fahrkarte und nachdem sie uns aufmerksam betrachtet hatte, fragte sie, ob wir nicht irgendetwas im Abteil auf dem Hinweg vergessen hätten. Von dieser Frage verblüfft, antwortete ich ruhig: „ Ja, schwarze Herrenschuhe“. Sie lächelte und ging schweigend davon. Die Neugier meiner Begleiter konnte man nicht übersehen. Auf die Frage, was die Schaffnerin von uns wolle, sagte ich nur: „ Das seht ihr gleich“. Es vergingen 2 – 3 Minuten und in der Türöffnung des Abteils erschien die Schaffnerin und hielt in den Händen eine Plastiktüte. Darin lagen meine neuen Schuhe. Meine Begleiter öffneten vor Überraschung die Münder, so staunten meine Deutschen.

Ich klopfte einem von ihnen stolz auf die Schulter und sagte: „Jungs, wir sind hier nicht in Deutschland, sondern in Russland“. Im Weiteren erfuhr ich, dass wir auf dem Hinweg mit dem gleichen Zug und in dem gleichen Waggon gefahren waren. Und da ich eine Hin- und Rückfahrkarte gekauft hatte, kam alles in Ordnung. Man hatte auf uns gewartet, da man wusste, dass wir wieder zurückfahren werden. Solch eine Geschichte ereignete sich zum Ende unserer Reise.