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Ausgangssituation

lageransicht

Skizzen

Nebenstehende Ansicht des Lagers wurde von Rudi aus dem Gedächtnis gezeichnet. Auch ein Lageplan wurde erstellt. Alles wirkt bedrohlich. Wir studierten die Zeichnungen immer wieder und versuchten, uns in diese fremde, unwirtliche Umgebung hineinzuversetzen. Da gab es einen sogenannten 'neuen' Friedhof, den die Gefangenen - unter ihnen Rudi - 1945/1946 anlegen mussten. Nach der Genfer Konvention war es den Siegermächten verboten, die verstorbenen Gefangenen in Massengräbern zu beerdigen. Als sie wieder einmal zu ihrer Arbeit in diesen Wochen ausgerückt waren, nahm ihn ein Altgefangener zur Seite, wies mit dem ausgestreckten Arm in nord-west-nördlicher Richtung und sagte zu ihm: ...dort in ca. 3 km jenseits der Bahnlinie nach Tolstoi, wo das Terrain etwas hügelig ist und sich vom übrigen Gelände abhebt, da liegen ca. 3000 - 6000 Altgefangene aus den Jahren 1943, 1944. Dieses Bild, so sagte Rudi später, hat sich ihm eingebrannt, er wird es nie vergessen. Das Lager 35/1 lag nur wenige hundert Meter weiter südlich von diesem Gräberfeld aus gesehen entfernt. Man erkannte es schnell an den Resten eines hohen Betonturms. Auf diesem Gelände sollte vordem einmal eine Zucker- bzw. Spritfabrik entstehen. Viel weiter südlich - etwa 3 km davon entfernt - war das Lazarett des Gefangenenlagers und das Lager 35/II. Es lag direkt westlich neben dem Bahnhof Lebedjan auf Höhe einer Brotfabrik. Während die Insassen des Lagers 35/I morgens noch die Leichname auf Leiterwagen vom Lazarett zum Friedhof zogen, brachten sie nachmittags das Kleiebrot auf ihrem Wagen in ihr Lager. Rudi - damals gerade 17 Jahre alt - war ebenfalls an der Ruhr erkrankt, hatte blutigen Durchfall. In der ersten Nacht starben um ihn herum sieben seiner Kameraden.

Erinnerungen

Nur wenige Meter von der Westseite des Lagers entfernt zieht der Don ruhig und klar seinen Lauf nach Süden. Jenseits des Don, der entlang des Stadtrands von Lebedjan einen weiten Bogen schlägt, liegt aus Sicht des Lagers westlich oben auf einer Anhöhe eine Kathedrale. Mit ihren drei bauchigen Türmen und den orthodoxen Kreuzen darauf ist sie unverwechselbar. Die Stadt Lebedjan, die die Gefangenen nie betraten, liegt ca. 3 km vom Bahnhof entfernt in südlicher Richtung auf der jenseits des Don sich erstreckenden Anhöhe. Sie befindet sich inmitten des russischen Plateaus, der großen Ebene, die ehedem selten von Bäumen bewachsen war, sondern als Steppenland vorwiegend der Viehzucht Raum bot. Lebedjan - schon damals eine Stadt von ca. 20 000 Einwohnern - liegt etwa 380 km südlich von Moskau, 50 km nordwestlich von der Bezirkshauptstadt Lipetsk und ca. 80 km nordöstlich von der nächst größeren Stadt Jelez entfernt. Das Ackerland besteht aus tiefschwarzem, fruchtbarem Boden.

Die russischen Bewacher hatten selbst kaum etwas zu essen, dennoch konnten sie mitunter mit ihren Waffen Wild erlegen und waren somit in einer besseren Versorgungssituation. Den Berichten nach waren sie streng, aber nicht unmenschlich. In schwierigen Situationen siegte meist ihr Mitgefühl mit dem Elend der Gefangenen. So war es leider häufig anzutreffen, daß auf dem 30 km langen Arbeitsweg vom Waldlager, das im Nordosten von 35/I bereits seit dem I. Weltkrieg bestand, manch völlig enträfteter Gefangener nicht weiter konnte. Gemäß Befehl durfte er nicht allein zurückbleiben, sondern sollte erschossen werden. Mitgefangene entledigten sich heimlich eines Teiles der Tagesladung an gefällten Bäumen, legten ihren Kameraden auf das Gefährt und zogen ihn mit letzter Kraft in das Lager bzw. Lazarett. Als dies bemerkt wurde, griff der Bewacher unmißverständlich zu seinem Gewehr. Die Gefangenen redeten wie mit Engelszungen auf ihn ein - mit Erfolg - und der Tross zog weiter.

Lebedjan gestern und heute

Solche Entwicklung hat sicher nicht jede größere Stadt in der Förderation erfahren! Einst kaum Industrie und ein entwickeltes Gemeinwesen, verfügt Lebedjan heute über nahezu alles, was eine mittlere europäische Stadt auszeichnet: Mehrere Schulen, Kindergärten, Bibliotheken, Museum, einen modernen Bahnhof, ein Krankenhaus, Restaurants, Banken, ein modernes Hotel, eine Diskothek und wie gesagt einige Industriezweige. Darunter vor allem ein Fabrik für die Herstellung von Fruchtsäften, ein Brotkombinat, eine Maschinenbaufabrik, eine Raffinerie. Auch Dienstleistungsbetriebe fehlen nicht.
In den Straßen und Alleen findet man noch die vom Beginn des vorigen Jahrhunderts stammenden blauen Wasserhähne, die bei Hebeldruck Leitungswasser in der gewünschten Menge spenden. Eine Reihe moderner und offenbar komfortabler Einfamilienhäuser sind anscheinend erst in den letzten Jahren hinzugekommen, denn hier und da harrten noch Details der Vollendung. Abends und besonders an den Wochenenden gehen hübsche, schlanke Mädchen lachend und scherzend spazieren. Die Disko war nicht weit entfernt. Oder man sitzt unter Sonnenschirmen vor kleinen Ladeneinheiten und teilt sich die Ereignisse des sich neigenden Tages mit.

Reiseeindrücke

Entgegen den 'Bahn'-Übersichten, in denen neben falschen Abfahrtzeiten auch kein Hinweis darauf erschien, daß es sich am Reisetag um einen Schlafwagenzug handelte, waren wir um so überraschter im Paweljetzki-Bahnhof einen superlangen Zug vorzufinden, der überwiegend aus Schlafwagen bestand. Die Züge in und aus dieser Richtung verkehren nur nachts. Vielleicht ganz in Ordnung so, denn für die vergleichsweise kurze Distanz brauchten wir zwölf Stunden. Wir freuten uns über die Freundlichkeit der Schaffnerinnen, die in großer Zahl die Wagen begleiteten. Kaffee oder Tee aus einem mit Kohle befeuerten Samowar am Ende jedes Wagens wurde gern und preiswert angeboten. Wir sanken zurück in die frischen Bezüge auf unseren Liegen und hörten nichts mehr bis Jelez. Dort hielt der Zug früh um sechs für anderthalb Stunden. Ich wollte meine geliehene Videokamera ausprobieren und lief ins offene Messer des Bahnhofvorstehers, der wild gestikulierend mit einem Milizionär in mein Abteil kam und die Löschung des strategisch zu schützenden Bildmaterials verlangte. Später begrüßte uns ein sehr zuvorkommender Aserbaidshaner, der in Handelssachen in die Region wollte. Endlich trafen wir bei schönstem Sonnenschein in Lebedjan ein.

Anmeldeprozedur

In der Förderation ist es bindend, sich 72 Stunden nach Ankunft im Lande, entweder im Hotel der Zielstadt oder bei einer der auf einem Reisebegleitzettel vermerkten Stellen anzumelden. In Moskau war es zu spät dafür, die Zeit reichte gerade für den meilenweiten Weg ins Zentrum, die Einnahme eines Abendessens, den Fahrkartenkauf und das Besteigen des Zuges. Also hofften wir auf die gnädige Bürokratie am Zielort. Natürlich war die Herberge kein Moskauer Hotel, das ausgestattet war mit Hinweisen des Innenministeriums des riesigen Landes. Aber es gab eine Milizstation im Ort mit einer Stelle für Paßangelegenheiten. Normalerweise stand sie nicht auf dem Zettel, aber der Verantwortliche mochte uns irgendwie. Er gab seiner Kollegin Anweisung, uns vor der langen Mittagspause zu bedienen. Also holten wir schnell Passkopien, Hotelbestätigungen und Einzahlungsbelege herbei und kriegten zur festgesetzten Stunde unsere gestempelten Papiere zurück. Charoschó!

Museum der Stadt

Mit viel Liebe und Aufmerksamkeit für das Detail unterhält die Stadt Lebedjan ein örtliches Museum. Als wir es betraten, bleckte uns ein ausgestopfter Wolf aus der Ecke an und hinter der offenen Tür zum ersten Ausstellungsraum sahen wir wie sich eine Anakonda träge im Glasbehälter räkelte. Es muß sich wohl in dieser Sektion um eine naturkundliche Ausstellung gehandelt haben. Wir wollen uns dies alles beim nächsten Besuch genauer betrachten. Ziel war jedenfalls nicht die Besichtigung, sondern der Besuch bei der Direktion. In einem der hinteren Räume trafen wir dann die junge Direktorin und ihren Stellvertreter. Sie empfingen uns sehr freundlich, hörten sich unser Begehr nach Zeugen und Zeugnissen jener Zeit interessiert an. Erste Reaktionen ließen erkennen, dass keine Kenntnisse oder griffbereiten Dokumente vorlagen. Doch bald schon waren wir überrascht: Bilder der Jahre 1934 ff. über jene Gegend, in der später das Lager errichtet wurde und Kontaktaufnahme mit einer hochbetagten Zeitzeugin brachten wichtige Erkenntnisse.

Restaurants

Es gibt nicht sehr viele Gaststätten in der Kleinstadt, darunter aber solche der ersten Kategorie: Vom Eingang her bereits Wandelgänge, die von Sandsteinsäulen umsäumt werden, die Gastebene auf halber Höe, darüber rustikale Holzbalkendecken und kunstvoll geschmiedete Brüstungen als Begrenzung zur unteren Ebene. Dies zeugt schon von einer besonderen Note. Oder man besucht eine einfaches, als Cafetria bezeichnetes Restaurant, in dem neben feinsten Torten ein reichhaltiges Sortiment guter russischer Mittagsmahlzeiten angeboten wurde. Das hatten wir nicht erwartet. Die obligatorische Borschtsch-Suppe und Kashja zum Hauptgericht ließen wir uns nicht entgehen. Wenn man es ganz eilig hatte, ging man einfach neben dem täglich außer sonntags stattfindenen Bauernmarkt in eine Gaststätte mit kleinem, aber schmackhaften Angebot. Erst später merkten wir, daß die Gurken aus Eigenanbau von hervorragender Qualität waren, die die holländischen Wasserkulturen weit in den Schatten treten ließen.

Markt

Als wir gerade am Sonntag Morgen zu unserer zweiten Erkundungstour aufbrechen wollten, war die Allee vor unserem Fenster von geschäftigem Treiben des Aufbaus vieler Buden und Ladenstände gekennzeichnet. Der Straßenverkehr war halbtags gesperrt. Dafür wandelten eine Stunde später hunderte von Einwohnern zwischen den Ständen hin und her und betrachteten die dort ausgestellte Sportkleidung, Schuhe, Strümpfe, Unterwäsche, ja sogar Brautkleider.
Es war der Tag des heiligen Nikolaus, an dem der orthodoxe Pope zum Gebet in die Kirche bat, die sich am Rande der Allee erhob. Wir nutzten dies für einen Besuch der Kirche, konnten aber die eigentliche große Haupthalle wegen andauernder Renovierungen nicht erblicken. Einfache Menschen zogen nach den Gebeten mit Flaschen voll geweihten Wassers an uns vorbei ins Freie.