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Publikationen: Buch von Rudolf Heger "Stationen meines Lebens"

Buch Cover

Ein Dokument gegen den Krieg

Bewegende Biografie von Rudi Heger († 14. September 2016),

dem Überlebenden von Lebedjan 35/1, den der Verfasser bei der Suche nach seinem Vater antraf.

Rudi Heger hat seine Geschichte still und leise aufgeschrieben: seine Geschichte von der Lausbubenzeit im Sudetenland, vom Leben im Krieg, von der russischen Gefangenschaft, vom Nachkriegs-Herzogenaurach. Es sollte ein Vermächtnis sein nur für seine Enkel und Urenkel. ... Rudi Heger ist nicht Schriftsteller von Beruf, er hat sein Geld in der Nachtschicht verdient. Gerade deshalb ist seine Schilderung authentisch und glaubwürdig. Hier schreibt keiner um der Sprache willen, sondern weil etwas aufbewahrt werden soll. Die Leser, die den Krieg nicht mehr selbst erlebt haben, werden am Ende des Buches vor allem erleichtert sein: Himmel sei Dank, dass diese furchtbaren Zeiten vorbei sind. Das ist die eine Seite. Die andere: Das Buch erzählt uns davon, wie dünn die Schutzschicht ist, die den Menschen vom Bösen abhält. Man werde auch in hässlichen Zeiten ein guter Mensch bleiben? Sehr mutig, wer das von sich schon vorher behaupten will. Und wenn der heute 80-Jährige in seinem Buch schildert, wie er als Heimkehrer in Herzogenaurach Fuß fasst, wird deutlich, dass selbst in besseren Zeiten noch genügend Boshaftigkeit auf den Beinen ist. Das Buch rechnet nicht auf, behauptet nicht, die Deutschen seien die eigentlichen Opfer gewesen. Aber Heger erzählt, dass es auf allen Seiten viele unschuldige Opfer gab. Dass Rudi Heger überlebt hat, ist ein Wunder. Oder ein Zufall. Der Leser braucht sich seiner Tränen nicht schämen, wenn er miterleben darf, wie nach fünf Jahren der 22-jährige Heimkehrer Rudi seinen todkranken Vater in die Arme schließen darf. So lange hat der Vater durchgehalten. Kurz darauf stirbt er. Auch wenn Rudi Heger nur erzählt, hier hat er seine wichtigste Botschaft: So lange das Band der Familie hält oder die Verbindung zu Menschen, die uns wertvoll sind, so lange ist Hoffnung da. Hoffnung, die dem schnell verloren geht, der nur auf Nation, Überlegenheit oder Kalkül setzt. Wer das Buch von Rudi Heger gelesen hat, wird also feststellen dürfen, dass es uns heutzutage richtig gut geht. Solange wir Frieden halten. Es ist daher zu wünschen, dass das Buch ... viele junge Leser findet.

Über das Buch schrieb Matthias Kronau, Nordbayerische Nachrichten vom 19.07.2008, hier auszugsweise wiedergegeben.

Sollten Sie Interesse gewonnen haben, dieses Buch zu erwerben, so können Sie dies hier oder durch Drücken Buttons "Kontakt" mit Bitte um Unterstützung tun. Der Erwerb über den Buchhandel von Amazon wird erwogen. Die Auflage mit ISBN 978-3-00-025480-2 ist.vergriffen.

Beim Lesen alter Zeitungen stellten wir mit Erstaunen fest, dass bereits vor sechs Jahren dier Tochter eines deutschen Kriegsgefangenen ebenfalls versucht hatte, das Grab ihres Vaters ausfindig zu machen. Alte Einwohner der Stadt Lebedjan berichteten über das schwere Los der Kriegsgefangenen.

Artikel aus der monatlich erscheinenden „Zeitung der Miliz für Alle“ mit Namen ‚Null Zwei’, Nr.6, 1999 von N. Starkina

Gefangene in Lebedjan

In unserem Rajon gab es keine deutschen Truppen, obwohl die Front nicht sehr weit entfernt war. Die hier lebenden Christen sind bis heute der Meinung, dass diese Gegend von Gott besonders geschützt wurde. Schon vor 600 Jahren wurden hier die Mongolen vertrieben. Nachdem die deutschen Truppen von der Station Jeljez zurückgedrängt wurden, kamen nach und nach Kriegsgefangene in unsere Gegend. Man hat sie auf dem Gelände der Maschinenfabrik untergebracht. Die meisten davon waren Rumänen. An die 20 Millionen Russen starben bei diesem Krieg, und es gab kaum eine Familie, die nicht darunter gelitten hat. Aber unsere Herzen waren nicht aus Stein. Viele Mütter dachten beim Anblick der Gefangenen sofort an ihre eigenen Söhne, von denen sie schon lange keine Nachricht erhalten hatten. Womöglich waren sie auch in Gefangenschaft. Obwohl sie selbst oft nicht viel zu Essen hatten, schickten sie ihre Kinder mal mit gekochten Kartoffeln, mal mit Rüben, zu den Gefangenen.

Die gefangenen Soldaten wurden bewacht und mussten verschiedene Arbeiten verrichten. Sie waren am Bau einer Fabrik beteiligt und haben Wasserrohre verlegt. Für die Sowchose „Agronom“ bauten sie ein eingeschossiges Verwaltungsgebäude. Ein alter Einwohner des Dorfs Trojekurowo, W. Moskwitsch, erinnert sich, dass es auch dort Kriegsgefangene gab. Die Einwohner wunderten sich, dass die deutschen Gefangenen Muscheln aus dem Fluss roh aßen. Die örtliche Bevölkerung hat sie dabei nicht gestört. Der ehemalige Kriegsteilnehmer, W. Wassiljew, der als Chauffeur nach dem Sieg arbeitete, erinnert sich, dass die Kriegsgefangenen als Lastträger arbeiteten, man bediente sich ihrer Hilfe. Er schrieb über seine Verantwortung für sie.

Nach dem Krieg gab es bei kaum jemandem Haushaltgegenstände wie Geschirr. Einige Frauen sind mit Blech zu den Gefangenen gegangen und ließen sich unter anderem Milchkannen herstellen, die genauso gut waren wie die Milchkannen aus der Fabrik. Gezahlt wurde mit Machorka-Tabak, der in jedem Garten angebaut wurde. Einmal bekamen die Kriegsgefangenen vom Roten Kreuz einen ganzen Wagon gefrorenen Fisch. Es herrschte Hungersnot. Viele Kinder hatten sich im Gebüsch versteckt und beobachteten wie der Wagon ausgeladen wurde. Einige Gefangene warfen Fische über den Zaun zu den Kindern, die glücklich damit nach Hause liefen.

Eines Tages wurden die Lagerinsassen freigelassen und fuhren in ihre Heimat. Wenige wissen, dass es hinter Lebedjan, unweit der Biegung des Don, einen Friedhof gibt, auf dem die Gefangenen liegen, die im Lager verstorben sind. Dort befindet sich zum Gedenken an sie ein kleines Denkmal.Vor einigen Jahren war hier eine Delegation aus Deutschland, die diesen Friedhof besucht hat. Zur Ehre der Deutschen muss man sagen, dass die Gräber der russischen Soldaten in Deutschland sehr gut gepflegt werden. Vielleicht gibt es auch heute noch in Deutschland jemanden, der sich in seinem kleinen Gemüsegarten an Russland, Lebedjan, erinnert, wo für ihn der Krieg zu Ende ging.

Auszug aus dem Leitartikel der monatlich erscheinenden „Zeitung der Miliz für Alle“ mit Namen ‚Null Zwei’, Nr.6, 1999 von N. Bor

Das Grab am Tal

Der Mensch lebt solange man Erinnerungen an ihn hat. Schauen Sie sich das Bild in dieser Zeitung an. Eine zierliche blonde Frau, eine Deutsche, ihr Name ist Heidi Rothe. Versteinert steht sie an einem Hügel, der nur noch mit einem kleinen Schild aus Eisen versehen ist. Darauf steht eine Nummer. Auf dem anderen Foto sieht man, wenn man genauer hin sieht, tausende von diesen besagten Gräbern. Heidi Rothe suchte ihren Vater über 50 Jahre lang und ist nun fündig geworden. An einem weit entfernten Ort tief in Russland.

Alles der Reihe nach: Aus dem fernen Berlin kam ein Brief nach Lipezk, der an den Bürgermeister mit der Bitte um Hilfe beim Aufsuchen des Grabes ihres Vaters adressiert war. Darin heißt es:

Mein Vater war Arzt / Chirurg, gestorben in Gefangenschaft im Alter von 33 Jahren. Sein Name war Günter Gilbrecht, geboren am 25. April 1913 in Berlin und gestorben am 25. Mai 1946 in der Stadt Lebedjan im Kriegsgefangenenlager Nummer 35

Weiter war im Brief der Ort der Grabstätte erwähnt. Sie schrieb ferner, dass der Zweite Weltkrieg ein schreckliches Ereignis für das russische Volk war und ihr Vater auch ein Opfer dieses grausamen Naziregimes geworden ist.
Nach so langer Zeit!
So viele Jahre sind ins Land gegangen. Man hätte sich der Sache ja nicht anzunehmen brauchen, aber die Stadtverwaltung und der Leiter der Abteilung des Archivs vom Innenministerium von Lipezk, Oberstleutnant W.B. Kopenkin, nahmen sich der Bitte der alten Dame gerne an. Im Verlauf einiger Monate führten sie Nachforschungen mit Hilfe seiner Mitarbeiter und der Miliz aus Lebedjan durch. Es stellte sich heraus, dass auf dem Territorium des Gebiets Lipezk sich zu dieser Zeit mehrere Kriegsgefangenlager befanden hatten:
Lager 35 im Kreis Lebedjan, Dorf Strilzi, Dorf Trojekurowo,
Lager 95 im Dorf Nowogulanko, Kreis: Usmanski und
Lager 263 in der Stadt Jeljez.
Neben diesen Lagern befanden sich die dazugehörigen Friedhöfe. Der größte von ihnen befand sich bei Strilzi, dort wurden 772 Kriegsgefangene beerdigt. Es waren nicht nur auschließlich Deutsche, ihre Zahl belief sich auf ca. 400, sondern darüber hinaus waren auch 150 Moldawier, über 100 Rumänen, 50 Urkainer, Österreicher, Tschechen und Franzosen. Im Archiv befanden sich viele Einzelheiten, die uns halfen, den Vater von Frau Rothe zu finden.

Es gab sogar Legenden über die besagten Friedhöfe, zum Beispiel eine, die man sich über den Friedhof in Trojekurowo erzählt. Der Friedhof befindet sich am Waldrand des Waldes Scharowsk und dieser befindet sich an einer Obstplantage der Sowjose mit Namen "15. Jahrestag der Oktoberrevolution". Der Weg zum Friedhof führt durch die Obstgärten. Hierzu gab es auch noch Zeichnungen und Pläne der Friedhöfe. Der Friedhof des Lagers Nummer 35, auf dem sich auch das Grab von Günter Gilbrecht befindet, liegt auf dem Territorium einer Kolchose mit Namen "20 Jahrestag des Oktober". Er erstreckt sich am Nordrand des Tals "Pilin Log". Seine Fläche beträgt 0,4 Hektar. Sie liegt östlich der Moskauer Donbas-Eisenbahnstrecke, nicht weit entfernt von der Station Lebedjan. Drei hundert Meter von dem 29. Meilenstein dieser Bahnstrecke entfernt. Die Maschinenbaufabrik und die umgebende Wohnsiedlung befinden sich achthundert Meter von dem Friedhof.

Dazu ist auch ein Plan vorhanden. Der Friedhof war in Quadranten aufgeteilt. In jedem Quadranten befanden sich 20 Gräber. Die erste Beerdigung auf diesem Friedhof fand am 6. Mai 1944 statt. Es wurden auch Listen geführt. Anhand dieser Listen konnten die Milizbeamten den Namen Gilbrecht, Günter, geboren 1913, Rangbezeichnung: Kapitän, gestorben am 25. Mai 1946, beerdigt am 26. Mai 1946 unter der Nummer 761 finden. Diese jedoch stimmte nicht mit der Nummer von Frau Rothe überrein. Laut unserer Liste war ihr Vater im Quadrant 39, im zweiten Grab beerdigt. Gemäß ihrer Informationen war er im Quadrant 44, Grab 24, welches  es nie gegeben hat. Der letzte, auf diesem Friedhof Beigesetzte, war ein Hans Leopold, geboren 1921, ein deutscher Leutnant. Er wurde im Grab Nr. 13 des 39. Quadranten unter der Nummer 772 beerdigt. Der Friedhof wurde am 7. Juli 1946 geschlossen.

Was mit den anderen Gefangenen passiert ist, ob sie überlebt haben oder sogar in ihre Heimat zurückgekehrt sind, ist nach den Archivunterlagen nicht nachvollziehbar. Die Beamten von der Lebedjaner Miliz haben Einwohner aufgesucht, die über viele Jahre diesen Friedhof gepflegt haben. Es gibt sogar eine Akte, in der über den Zustand des Friedhofs berichtet wird. Zum Beispiel befindet sich darunter ein Vermerk für das Jahr 1949: "Der Friedhof ist nicht umzäunt, aber von einem Graben umrandet. Die Mehrheit der Gräber ist eingefallen und nicht mehr zu erkennen. Jegliche Markierungen fehlen. Es gibt fünf große Gräber, in denen aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere Kriegsgefangene zusammen beerdigt wurden. Zehn Gräber sind geöffnet worden und zwar einen bis anderthalb Meter tief. Das wird durch die ausgehobene Erde sichtbar. Der Zeitpunkt, an dem die Gräber geöffnet wurden, ist nicht länger als ein Jahr her." Die Stadtverwaltung von Lebedjan hat es abgelehnt, den Friedhof und die dazugehörigen Listen in ihre Akten aufzunehmen. Der Grund dafür war, dass es hierfür keine Anweisungen von der Kreisverwaltung gab.

Über die Kriegsgefangenen in Lebedjan

von Vitold Goltjajew

In allen Kriegszeiten waren Kriegsgefangene ein begleitendes und unentbehrliches Merkmal des Krieges gewesen. Sowohl im Krieg, als auch danach war das Verhalten zu dieser Sondergruppe der Menschen gar nicht eindeutig. Es herrschten diesbezüglich verschiedene Meinungen. So durften sich die Soldaten der japanischen Armee im Zweiten Weltkrieg nicht gefangen geben. Die gefangengenommenen Japaner zogen ihrem Namen und damit den ihrer Familien das schändliche Merkmal des Feiglings hinzu. Das war schlimmer als der Tod. Sie versuchten deshalb, auf jede beliebige Weise Selbstmord (Harakiri) zu begehen. Nur so konnten sie ihre Schuld vor Vaterland und Kaiser büßen. In der UdSSR wurden die aus den deutschen Lagern zurückkehrenden Menschen in den "Organen" bearbeitet, manche davon als Landesverräter in eigene sowjetische Lager verbannt. Dabei wurden ihre Verwandten und Bekannten verfolgt.

Laut Mobilmachungplänen von 1941 hatte der NKWD der UdSSR die Armeeaufnahmepunkte (APP) für Kriegsgefangene im Kriegsfall zu entwickeln, deren Aufgabe war: Die Übernahme von Kriegsgefangenen aus den Kampfeinheiten der Roten Armee, deren Versorgung und Übergabe an die Geleittruppen des NKWD der UdSSR zwecks deren Abtransports in rückwärtige Lager. Mit der Zeit wurde es aber klar, dass das System der Versorgung und des Abtransports von Gefangenen wenig effektiv war. Deshalb wurden Verteilungslager neben den APP unter den Kampfbedingungen laut dem Befehl des NKWD der UdSSR vom 5. Juni 1942 geschaffen. Die Verpflegungsordnung der Verteilungslager (darunter auch die APP) wurde durch die Weisung des rückwärtigen Stabs der Sowjetarmee vom 17. Mai 1942 festgesetzt. Im Ergebnis der gemeinsamen Aktionen des NKWD der UdSSR und des rückwärtigen Stabs der Sowjetarmee stieg die Anzahl von APP und Vereilerlagern naturgemäß an. Zu dieser Zeit existierte bei jedem Chef des rückwärtigen Dienstes der Front eine Dienststelle des Beauftragten des NKWD der UdSSR für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen, d.h. unter Frontbedingungen wurde erstmalig eine Institution der Beauftragten für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen gegründet. Angesichts eines massenhaften Eingangs feindlicher Gefangener wurden Anfang 1943 auf Befehl des NKWD der UdSSR vom 18. Februar bei Chefs der NKWD-Schutztruppen der rückwärtigen Front Abteilungen für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen gebildet, die sich unmittelbar dem ganzen Fragenkomplex, der mit der Aufnahme, der Versorgung und des Abtransports unter Frontbedingungen zusammenhing, widmeten. Die im Zeitraum von 1941-42 erworbene Erfahrung zeigte zugleich, dass es zweckmäßig war, das System der Aufnahme, Versorgung und des Abtransports von Gefangenen an der rückwärtigen Front zu überprüfen. Aus diesem Grund wurden 1943 die Verteilungslager auf Befehl des NKWD der UdSSR in Aufnahme- und Etappenlager umgewandelt. Um bequemer und effektiver mit großen Massen von Kriegsgefangenen zu arbeiten, baute man zugleich auf Befehl des NKWD der UdSSR vom 26. September 1943 Sammelpunkte von Kriegsgefangenen als ein Mittlerglied zwischen den APP und den Aufnahme- und Etappenlagern auf.

Die ersten Kriegsgefangenen erschienen in Lebedjan Ende 1942 im Winter. Das waren Soldaten, die in schweren Kämpfen bei Kandorowka an der Woronesher Front gefangen genommen wurden. Am 28. Juni 1942 begann die Offensive der deutschen Truppen in Richtung Woronesh. Die Angriffsoperationen der Deutschen erhielt den Schlüsselnamen "Blau". Für ihre Verwirklichung bildete die deutsche Führung im Rahmen der Armeegruppe "B" extra eine Armeegruppierung "Weichs" unter der Führung des Generalobersts Baron von Weichs. In diese Gruppierung wurden die besten deutschen Einheiten und die 2. Ungarisch Königliche Armee ausgewählt. Woronesh war jedoch nur teilweise erobert, jedoch wurde bis zum Winter 1942/43 um die Stadt gekämpft bis dass der Feind durch die Woronesh-Kastornensk Offensive in diesem Bereich vollkommen geschlagen wurde.

Uns so zogen die Gefangenen zu Fuß, zu langen Kolonnen gereiht, die alte Jelez-Landstraße entlang über Kladbischenskyje Puschkari zur Krasjonny Brücke. Zerlumpt, schwarz vor Frost und Hunger, krank und blutend, mit eiternden Wunden, die Füße mit Stroh und Lumpen umwickelt. So wurden fallende und einander unterstützende tausendfache Massen durch die Stadt unter Geleitschutz getrieben. Angesichts der Erfolge der Roten Armee an der deutsch-sowjetischen Front geschah so etwas immer häufiger. Die Stadteinwohner begleiteten mit schweigenden Blicken diese elenden Prozessionen. Die Gefangenen sahen kaum den strammen Kriegern der Wehrmacht ähnlich wie sie uns bei Feierlichkeiten der Partei und des Führers mit glänzend gebürsteten Stiefeln auf dem Pflaster Nürnbergs marschierend gewöhnlich in Dokumentarfilmen der Kriegschronik gezeigt wurden. Die Soldaten der besten deutschen Einheiten, der Zweiten Ungarisch Königlichen Armee, sie waren wohl irgendwo bei Woronesh samt Massen der ausgerotteten Zivilbevölkerung liegengeblieben. Nun ähnelten diese Menschen eher den grauen, leblosen Schatten, in deren leeren Augen die eigene Verdammung und Ausweglosigkeit hindurch schimmerten. Diese Menschen gingen mit einem blinden Glauben hinter den breit ausgefalteten Flügeln des Naziadlers, der sie zuletzt in die Sackgasse der sowjetischen Gefangenschaft geführt hatte. Nun konnten die ehemaligen Soldaten der Wehrmacht den "Reiz" ihrer Lage tief empfinden wie ihn Tausende und aber Tausende von Menschen aus den besetzten Gebieten, die zu Kriegsbeginn nach Deutschland in das KZ verschleppt wurden, empfunden haben. Nun konnten diese tapferen Verteidiger des Reichs tagtäglich in das nahende Ungewisse blicken, eine tierische, den früheren KZ-Insassen so bekannte Angst verspürend und jede Minute bewusst, dass ihr Leben jetzt gar nichts bedeutet. Für diese Kämpfer war der Krieg beendet.

Einige Zeit danach beließ man in der Stadt nur eine kleine Anzahl von Kriegsgefangenen. Da noch keine Sonderplätze bzw. Lager für deren Unterkunft gebaut worden waren, hielt man sie in kleine Gruppen aufgeteilt in verschiedenen Teilen der Stadt. Es war z.B. das Haus in der Mirstraße 17 mit den Räumen der Handelsgesellschaft oder das Haus in der Sowjetskajastr. 17, das heute ein Hotel ist und ein zweistöckiges Haus in der Potstowajastr. 8, in dem sich der Stab der Verwaltung für die Unterbringung der Gefangenen befand. Eine große Gruppe der deutschen Kriegsgefangenen wurde im Stadtpark untergebracht. Eigentlich waren es weniger Deutsche, sondern hauptsächlich Rumänen und Österreich-Ungarn. Diese Gefangenen mussten einen schrecklichen Winter im Freien hinter einem Schmiedezaun des Stadtparks überwintern. Es war nichts da, weder Zelte, noch Erdhütten, wo man sich verstecken konnte. Nur Schnee, Frost und der bis auf die Knochen durchdringende Wind. Das war die verdammteste Stelle. Tag und Nacht brannten ununterbrochen Scheiterhaufen, die man ab und zu zusammentat in der schwachen Hoffnung, auf dem erwärmten Boden einzuschlummern. Die einheimischen Kinder schlängelten sich trotz der Anrufe der Bewachungssoldaten dort herum und verkehrten mit Gesten und im gebrochenen Deutsch mit den Gefangenen, wobei sie Schnallen, Riemen, Taschenmesser, Feuerzeuge und sonstige Kleinigkeiten gegen Essen austauschten. Manche Großmütter und ältere Frauen warfen Brot über den Zaun. Unsere Menschen sind nicht nachtragend. Auf den niedergeworfenen Feind schauend, dachten sie wohl, dass sich ihre Söhne, von denen sie nichts zu hören bekamen, möglicherweise auch in der Gefangenschaft abplagten. Manchmal schickten sie Kinder mit gekochten Kartoffeln und Rüben zu den Gefangenen, wobei sie selbst hungerten. Sie Bewachungssoldaten wiesen sie aber ständig ab und beschimpften sie. Der kalte Winter 1942-43 hat das Leben vieler Gefangener gekostet. Es gibt Zeugnisse von einer großen Massengrablage im Stadtpark. Auf dem kreisförmigen Hügel war früher ein Blumenbeet. Heute ist diese Stelle beinahe planiert. Die massenhaften Einweisungen wurden in dem Stadtviertel vorgenommen, das durch die Potschtowaja-, Nagornaja-, Mir- und Schachraj-Straße umschlossen wurde. Fast täglich gruben die deutschen Einweisungsmannschaften per Hand Gruben aus, die 8 Meter mal 8 Meter maßen und dicht nebeneinander lagen, nur durch eine schmale Furche getrennt. Wegen der starken Fröste wurden die Leichen nur leicht mit Schnee bedeckt und die Einweisungen wurden auf wärmere Zeiten verschoben. Hier fanden dann hungrige obdachlose Hunde ihre Beute. Eine Frau berichtete, dass sie als Kind mit einer Kinderschar hoch auf einer deutschen Leiche bergab rodelte. Das war in einem Hohlweg neben dem jüdischen Friedhof, wo heute Rayon-Stromnetze verlaufen. Dieses fürchterliche Bild ist heute kaum mehr vorstellbar. Aber das waren damals andere, ganz furchtbare Zeiten. Es war Krieg und das Verhalten der einfachen Menschen zu gefangenen Hitlersoldaten .. na ja, es gab überhaupt kein Verhalten, insbesondere zu toten Faschisten. In den Köpfen aller Sowjetbürger saß bloß der Gedanke fest: Ein Deutscher, das sei gleichbedeutend mit einem Feind. Und der Feind muss vernichtet werden. Eine harte, aber für alle verständliche Moral. Allerdings versuchten Erwachsene die Kinder von solchen Entgleisungen abzubringen, aber .... Mit dem Eintreffen der Wärme sammelten die gleiche Einweisungsmannschaft der Deutschen die Gebeine ringsherum, die die Hunde noch nicht zerrissen hatten.

Im Februar 1943 funktionierte bereits am Rande der Stadt das NKWD-Aufnahme- und Etappenlager Nr. 35 für Kriegsgefangene der zentralen Front. Es befand sich auf dem Gelände einer noch nicht fertig gebauten Brennerei, wo heute ein Maschinenbaubetrieb ist. Insgesamt waren neben Lebedjan drei Kriegsgefangenenlager im Gebiet Lipezk vorhanden. Das war Lager Nr. 95 im Dorf Nowo Ugoljanka, Kreis Usman und Lager Nr. 263 in Jelez. Das NKWD-Lager Nr. 35 in Lebedjan war eine gewöhnliche, mit Stacheldraht umzäunte Zone mit Türmen und bewaffneter Bewachung, mit Holzbaracken und Hilfswirtschaft. Zum Lagerchef wurde der Major der Staatssicherheit Karelin Pjotr Michailowitsch befohlen. Seit Dezember 1943 wurde der Major und spätere Oberstleutnant der Staatssicherheit Michail Dmitriewitsch Kasakow zum Chef des Lagers ernannt. Nach unterschiedlichen Angaben waren im Lager etwa 6000 Kriegsgefangene. Südwärts, circa 3 Kilometer vom Lager entfernt, befand sich das Lagerlazarett für Gefangene. Hier lagen abgefrorene, schwerkranke und entkräftete Menschen. Fast jeder Morgen begann damit, dass man Verstorbene aus dem Lazarett zur Beerdigung hinausfuhr. Bei der Rückkehr am Nachmittag brachten Gefangene mit demselben Wagen Kleiebrot aus der Bäckerei mit, die ein wenig westwärts neben dem Bahnhof lag. In den für das Lager umgebauten Fabrikräumen waren mehrstöckige Pritschen errichtet. Die Liegeplätze waren knapp, weshalb sie von mehreren Menschen gleichzeitig benutzt wurden. Die Kriegsgefangenen verrichteten unter Bewachung bestimmte Arbeiten: So bauten sie in der Siedlung des Maschinenbaubetriebes zweistöckige Häuser. Die Architektur dieser Häuser ähnelt dem europäischen Stil jener Zeit. Man kann vermuten, dass sich Kriegsgefangene mit einer Ingenieurausbildung an den Entwürfen der Bauten beteiligten. Sie nahmen auch am Bau der Brennerei teil und bauten unweit der Kreiskonsumgenossenschaft Wagen auf dem Getreidedreschplatz oder sie arbeiteten bei der Holzbeschaffung, der Bahnverlegung und Instandsetzung oder verlegten die Wasserleitung von der Pumpenstation aus hinauf über den Tjapkinberg bis in die Stadt. Etwa 30 Kilometer vom Lager Nr. 35 entfernt lag die Forstwirtschaft des Lagers, vermutlich beim Dorf Schowskoje, in der Gefangene bei der Holzbeschaffung für die Lagerversorgung arbeiteten. Die Gefangenen wurden auch zur Arbeit in die Kolchosen und Staatsgüter des Kreises geschickt. Im Staatsgut "Agronom" bauten die Gefangenen das Verwaltungsgebäude auf. Sie wurden auch in den Obstgärten des Staatsgutes eingesetzt.

Im Dorf Trojekurowo wurde etws später die zweite Abteilung des NKWD-Lagers Nr. 35 eröffnet. Die Gefangenen wurden im ehemaligen Kloster Trojekurowo untergebracht und auch in den Obstgärten des Staatsgutes eingesetzt. Zur Bewachung der Gefangenen während der Arbeit wurden manchmal selbst die Kolchosbauern, meistens Frauen, einbezogen. Wurde eine kleine Gruppe von Gefangenen zu Be- und Entladearbeiten geschickt, dann war für sie diejenige Person verantwortlich, die diese Arbeiten leitete. Es waren echte Meister unter den deutschen Gefangenen. Damals war das Essgeschirr knapp. Frauen beschafften irgendwoher verzinktes Blech und baten die Gefangenen, eine Blechkanne zu fertigen. Die Milchkannen der Deutschen waren nicht schlechter, als die fabrikgefertigten. Dafür bezahlten die Frauen mit Lebensmitteln oder mit Machorkatabak, der damals in den Gemüsegärten wuchs. Mit der Zeit stellte die Zivilbevölkerung den Kontakt mit den Gefangenen frei her, wobei sie sich ihnen gegenüber relativ loyal verhielten.

Augenzeugen berichteten über einen interessanten Fall im Dorf Kurapowo im heissen Sommer 1944: ..."Die Gefangenen arbeiteten damals im Sowchose-Garten beim Umgraben der Apfelbäume. In den Baumreihen daneben arbeiteten russische Frauen. Während der Pause trat die Brigadeleiterin an ein Mädchen aus ihrer Brigade heran. Sie zeigte auf einen Mann aus der Gruppe der unweit vor ihnen sitzenden Kriegsgefangenen und sagte, er möchte für das Mädchen Karten legen, um ihr die Zukunft vorauszusagen. Die Brigadeleiterin verstand etwas Deutsch, deshalb bat dieser Mann sie, dem Mädchen seinen Vorschlag zu übermitteln. Der Deutsche war in mittleren Jahren, nicht groß von Wuchs, mit dunkelblonden, welligen Haaren und ruhig blickenden blau-grauen Augen. Das eigenwillige dunkelhaarige Mädchen fegte lässig ihr trotziges Pony von der Stirn weg, lachte laut auf und reimte: Was sagt er wohl, mir ist ohnehin wohl! Soll er machen, wenn er will! Am Abend, als die Gartenarbeiten zu Ende waren und die Leute im Begriff waren, nach Hause zu gehen, während die Kriegsgefangenen in ihre Baracken fürs Abendessen geführt wurden, wiederholte sich die Szene. Wieder sprach die Brigadeleiterin das Mädchen an: ....Der Gefangene da, der bat mich wiederum, Dich zu rufen. So sehr möchte er Dir die Karten legen! Hat Dich soo angeschaut neulich... - Was bleibt er denn an mir kleben, Alexandra Wassiljewna? Weg soll er! - erglühte das Mädchen. - Sachte, sachte, Irinka - lachte die Brigadeleiterin - na was, machst Du mit oder wie? - Die Frau stand, die Arme in die Seiten gestemmt und lächelte schelmisch. Nach kurzer Überlegung willigte das Mädchen ein, da es glaubte, der "Fritz" würde sie sowieso nicht in Ruhe lassen. Irinka gab auf und folgte ihrer Brigadeleiterin. Der Bewacher führte Irina und Alexandra Wassiljewna, die sich bereit erklärt hatte zu dolmetschen, zu jenem dunkelblonden Deutschen. Man merkte den Frauen leichte Aufregung an. Der Gefangene dagegen hatte einen ruhigen Blick, mit einem Schatten von Dankbarkeit. Dann sagte er ein Dankeschön dafür, dass man seiner Bitte entsprach und gekommen war. Als Alexandra Wassiljewna übersetzt hatte, nickte der Gefangene, seine Worte bekräftigend. Er holte Spielkarten heraus, sehr schöne, dicht geschmückte und Eichenblättern und Eicheln und begann langsam, sie zu legen, ab und zu Irina anschauend. Dann fing er an zu reden, zeigte dabei manchmal auf die Karten und räumte Pausen ein, damit Alexandra Wassiljewna seine Worte übersetzen konnte. - Heiraten wirst Du nur einmal und solltest in der Stadt wohnen. Dein Mann wird blonde Haare haben - Da zeigte der Gefangene mit dem Finger auf den Karokönig und setzte fort: Geld wird er Dir bringen und einen hohen Posten bekleiden. Ein einziges Kind werdet ihr haben, einen Sohn. Und dieser kriegt mit der Zeit ebenfalls nur ein Kind, einen Sohn, also, Euren Enkel. Kurz darauf waren Irina und Alexandra Wassiljewna unterwegs nach Hause und die Brigadeleiterin neckte das Mädchen: - Na, Irischka, schiess los, wen Du da heiraten willst? Wohl Mischka mit seiner Harmonika, den aus Buslanowo? Ja? Oder Kolka, den Stämmigen? Wie er da letztes Mal auf dem Hocker Dir den Hof machte! So einer mit Manieren. Wirst mich zur Hochzeit einladen? - Na, was reden Sie für Zeug, Tante Schura - meinte Irinka verlegen - niemand will ich ja heiraten. Gott weiß, was dieser Deutsche da alles erzählt hat. Hat sich dies wohl ausgedacht, Und so schritten sie weiter die Dorfstraße entlang und lachten in den warmen Sommerabend hinein. Zwei Jahre danach, im August, heiratete Irina Iwan, den jungen hellblonden Mann mit gutem, freundlichen Charakter, der den ganzen Krieg durchgemacht hatte. Sie haben sich in Lebedjan angesiedelt, denn Iwan arbeitete in der Stadt bei der Staatsanwaltschaft als stellvertretender Staatsanwalt. Ein Jahr nach der Hochzeit bekamen sie ein Kind, Wladimir. Und nach einigen Jahrzehnten, in den 70-er Jahren, wurde Wladimir auch Vater eines Jungen, Irinas Enkel. Alle diese Leute leben bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit ihren Familien in Lebedjan, im Frieden und Glück...."

Jetzt aber zurück zum Kriegsgefangenenlager Nr. 35. Im März 1943 wurde im Lager eine Parteizelle gegründet. Ihr gehörten Blochin A.I., Tschichatschjow P.K., Wiljaminow I.I. als Vollmitglieder an und Poljakow F.W., Anikanow A.A. als Kandidaten (Archiv, B. 48, Bl. 31 vom 11. März 1943). Zum Sekretär der Parteizelle ernannte man Frau Agrippina Grigorjewna Wischnjakowa, die seit Oktober 1943 auch als Klub- und Bibliotheksleiterin des Lagers Nr. 35 gearbeitet hatte (Archiv, B. 48, Akte Nr. 353, Bl. 57 vom 29. April 1944). Die Führung und die Militärräte der Fronten widmeten ihre Aufmerksamkeit nicht nur ständig den organisatorischen Aspekten der Haltung der Kriegsgefangenen (Verpflegung, medizinische Versorgung etc.), sondern auch der Kultur- und Aufklärungsarbeit mit den Gefangenen. Inhaltlich bestand sie darin, dass die Kriegsgefangenen über die Situation an den Fronten, in ihren Ländern sowie in der ganzen Welt informiert wurden. Dies geschah in Form von Vorträgen, Meetings und im Rahmen von persönlichen Gesprächen. Je nach Möglichkeit führte man den Kriegsgefangenen sowjetische Filme vor. Besonderen Wert legte man darauf, die Leute im Lager über Verordnungen der Sowjetregierung zur Haltung der Kriegsgefangenen sowie über Befehle der Obersten Militärführung, die Vergünstigungen für sich freiwillig ergebende Personen betrafen, zu informieren. Mit der Zeit wurde im Lager Nr. 35 ein eigenes Blasorchester gegründet, das am 9. Mai 1947 an den Feierlichkeiten teilnahm und die Manifestierenden beim Straßenumzug begleitete.

Gemäß den Anforderungen der internationalen Abkommen über Behandlung der Kriegsgefangenen wurde für sie ein Wehrsold vorgesehen, dessen Höhe im Befehl des NKWD der UdSSR Nr. 001155 vom 5. Juni 1942 wie folgt festgelegt wurde: 10 Rbl. für Soldaten und Sergeanten, 15 Rbl. für mittlere Kommandeure, 25 Rbl. für ältere Kommandeure, 50 Rbl. für höhere Kommandeure. Der jeweilige Betrag war einmal für die Zeit der Gefangenschaft auszuzahlen. Man muss jedoch sagen, dass infolge der mangelhaften Organisation die den Gefangenen zustehenden Gelder nicht in jedem Lager und nicht immer rechtzeitig ausgezahlt wurden. Heute gibt es leider keine Dokumente, denen man entnehmen kann, ob die Gefangenen des Lagers Nr. 35 in Lebedjan ihren Sold ausgezahlt bekommen hatten. Die beschwerlichen Verhältnisse Verhältnisse Lagerlebens waren Ursache für die hohe Sterberate der Gefangenen. Die höchste Sterberate war in der Regel bei Kriegsgefangenen festzustellen, die nach der Liquidierung eingeschlossener feindlicher Armeetruppen, z.B. bei Woronesh und Stalingrad, gefangen genommen wurden. Diese Gefangenen kamen im Lager äußerst erschöpft an, körperlich sowie psychisch, mehrere von ihnen krank an Typhus, Cholera, Paratrophie unterschiedlichen Grades, Lungenentzündung usw. Man hungerte, selbst die Lagerwache musste Hunger leiden. Dabei berichten Augenzeugen, dass die Wächter zwar streng, aber nicht hartherzig waren. In den für Gefangene schweren Situationen war es das menschliche Mitgefühl, das Regie führte und dies kam gar nicht selten vor. Als die Gefangenen vor Hunger so entkräftet waren, dass sie manchmal sich weder bewegen, noch klar denken konnten, traten einige von ihnen die Augen zu und stellten sich vor, sie hätten sich voll gegessen. Es mag sonderbar klingen, manchmal hilft dies zu überleben. Im Winter war es überall eisig kalt, so dass beim Einschlafen die Gefangenen sich lediglich durch die Körperwärme der daneben liegenden Menschen erwärmen konnten. Beim Aufwachen prüfte jeder vor allem, ob der Köper des Nachbarn noch warm war. War dies nicht der Fall, konnte man seine Schuhe und andere warme Sachen verwenden. Es gab in der Situation fast keine Hoffnung zu überleben. Täglich schwebte der Tod über dem Lager. Verstorbene Gefangene wurden zuerst in der Nähe vom Lager bestattet, etwa 100 - 200 Meter entfernt. Im Winter schleppte man auf Schlitten Dutzende Toter hierher. Im Sommer wurden die Leichen mit Karren zum Massengrab gefahren. Dort wurden sie unter Bewachung von ihren Kameraden bestattet. Davon zeugen die in den Nachkriegsjahren zahlreich in der Industriezone des Lemaz-Werkes durchgeführten Erdarbeiten, bei denen Bagger dauernd auf Massen- bzw. Einzelgräber stießen. Mehrere Bestattungen nahm man neben der über den Fluss Skwirnja führenden Eisenbahnbrücke vor, etwa 500 Meter in Richtung Nord-Ost vom Lager. Eine Zeit lang stand auf dieser kaum bemerkenswerten, mit kleinen Hügeln bedeckten Wiese, ein russisch-orthodoxes Holzkreuz auf einem Fundament aus Metall. Nach einigen Angaben horte man bereits Anfang 1941 wegen Platzmangel auf, hier Bestattungen vorzunehmen. Die Anzahl der hier bestatteten Kriegsgefangenen schwankt zwischen 3000 bis zu 6000. Bald darauf fing man an mit dem Bau eines neuen Friedhofs an. Er befand sich östlich vom Lager, auf dem Territorium des dem Dorf Strelezkij angehörenden Kolchos '20. Jahrestag der Oktoberrevolution', auf dem Nordufer der Schlucht 'Pilin Log'. Jetzt hört man hier das traurige Rascheln des Birkhuhns.

Laut Archivdaten wurde der Friedhof im Birkenwald am 6. Mai 1944 eröffnet und wurde danach ständig ausgebaut. 1945 wurde den Siegerländern auf Grund der Genfer Konvention verboten, Bestattungen der Kriegsgefangenen in den sogenannten Massengräbern vorzunehmen. Auf diesem Friedhof sind 772 verstorbene Kriegsgefangene verschiedener Nationalitäten bestattet worden wie auch den Archivdaten zu entnehmen ist. Die meisten waren freilich Deutsche, aber auch Rumänen, Österreicher, Ungarn, Moldawier, einige Ukrainer, Tschechen, Franzosen und sogar ein Russe. Am 7. Juli 1946 wurde der Friedhof geschlossen.

Es kam in den 70-er Jahren manchmal vor, dass die Gräber auf dem Kriegsgefangenenfriedhof im Birkenhain geöffnet bzw. geschändet wurden. Erstaunlich war es, dass man bei weitem nicht unter allen gleichmäßig angelegten Hügeln Gebeine gefunden wurden und dass es in den Gräbern selbst außer Gebeinen nichts mehr gab, weder Gegenstände, noch Kleiderreste oder mindestens Knöpfe. Die 'schwarzen' Grabsucher waren s. ehr erstaunt darüber. Die Ursachen waren jedoch sehr einfach: Laut Augenzeugenberichten waren die in der Nacht verstorbenen Kriegsgefangenen, insbesondere in der kalten Jahreszeit, nackt herausgetragen worden. Man nahm ihnen nicht nur kleine persönliche Gegenstände weg, sondern zog sie vollständig aus. Die Kleider konnten die Lebenden nutzen, Jeder versuchte zu überleben, so gut es ging.

Erst viel später stellte sich heraus, dass gepflegte Gräberreihen und Metallschilder mit Nummern nichts anderes als Potemkinsche Dörfer waren, die am Vorabend eines wichtigen Besuchs 1950 durch lokale Parteichefs errichtet wurden, was nebenbei gesagt, der Stadt in ihrem Erscheinungsbild auch nicht zur Ehre gereicht. Das war während der sogenannten Tauwetterzeit, als die Sowjetunion in ihren Beziehungen zum Westen gewissen positive Tendenzen an den Tag legte, so dass man sich darum bemühte, Ordnung zu schaffen und krasse Widersprüche zu mildern. Es ist ein Gutachten über den Zustand dieses Friedhofs im Birkenhain aus dem Jahre 1949 erhalten. Es lautet darin wie folgt: ..."Der Friedhof hat keinen Zaun, ist jedoch mit einem künstlich angelegten Wall umgeben, die meisten Grabhügel sind demoliert und eingestürzt, jegliches Anzeichen eines Friedhofs fehlt. Es gibt fünf größere Gräber, in jdenen jeweils offensichtlich mehrere Kriegsgefangene bestattet sind. Zehn Gräber sind bis zu einer Tiefe von 1 Meter bis zu 1,20 Meter ausgehoben. Die Ausgrabungen sind bis zu einem Jahr alt. Das Exekutivkomitee von Lebedjan weigerte sich, den Friedhof sowie die Erfassungsunterlagen zwecks Aufsicht und Instandhaltung zu übernehmen. Als Grund gab man an, keine entsprechende Anweisung seitens des Exekutivkomitees von Rjasan bekommen zu haben. Das genau gleiche Gutachten wurde zum Friedhof der zweiten Abteilung des NKWD-Lagers Nr. 35 abgefasst: "...Der Friedhof befand sich auf dem Territorium des Dorfrates Trojekurowo, am Rande von 'Russins Wald' (in anderen Quellen auch als 'Sharkowskij Wald' bezeichnet). Er wurde am 1. August 1946 angelegt und am 11. Februar 1947 geschlossen. Auf dem Friedhof sind 29 Kriegsgefangene und Internierte bestattet worden. Offiziell wurde für den Friedhof kein Grundstück zugewiesen, es gab lediglich die mündliche Anweisung des Direktors des Staatlichen Landwirtschaftsbetriebes "15 Jahre Oktoberrevolution". Die meisten Gräberhügel sind demoliert und eingestürzt, ohne Gedenktafeln, die Umzäunung fehlt". Dokumente belegen, dass man im Laufe der Zeit versuchte, ein Minimum an Ordnung zu schaffen und die Gräber zu pflegen. Man schloss Arbeitsverträge für Pflegeleistungen mit den Leuten ab, die in der Nähe wohnten. 1957 hat die Abteilung Gefängnisse des Innenministeriums (MWD) dafür sogar 8000 Rbl. ausgegeben. Nicht nur Ortsverwaltungen drückten Augen zu, wenn Kriegsgefangenengräber geschändet wurden, das deutsche Konsulat zeigte ebenfalls kein Interesse und reagierte auf Anfrage mit nichtssagenden Schreiben, ohne der Sache nachgegangen zu sein. Gegenwärtig ist es der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der sich mit den Kriegsgefangenenfriedhöfen aus dem Zweiten Weltkrieg auf russischem Boden beschäftigt. Die sowjetischen Soldatengräber in Deutschland stehen unter Kontrolle der zuständigen Organisationen und werden ordentlich gepflegt.

Die von Michail Gorbatschow initiierten politischen Wandlungen hatten neue Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der UdSSR und der BRD zur Folge. Im Abkommen über die Partnerschaft und Zusammenarbeit wurde die Kriegsgräberfürsorge als eins der zu lösenden Probleme bezeichnet. Mit diesem Abkommen garantierte die Sowjetregierung nicht nur den Zugang zu Kriegsgefangenengräbern, sondern sicherte auch deren Erhaltung und Pflege. Besondere Bedeutung hatte die Tatsache, dass dieses Abkommen die Freigabe von sowjetischen Archivdokumenten vorsah. Von nun an bekamen Kinder und Verwandte der Vermissten sowie in der Gefangenschaft verstorbener Wehrmachtsangehöriger eine reale Chance, nach Jahren der Ungewissheit endlich das Grab eines Verstorbenen aus ihrer Familie zu finden.

1999 traf in Lipetsk ein Brief aus Deutschland ein, der an den Bürgermeister adressiert war. Heide Rothe aus Berlin bat um Hilfe. Sie suchte das Grab ihres Vaters und schrieb: "....Mein Vater, der Chirurg, starb in der Gefangenschaft im Alter von 33 Jahren. Sein Name war Günther Gilbricht, geboren am 25.04.1913 in Berlin. Er starb am 25.05.1946 in Lebedjan im Kriegsgefangenenlager Nr. 35...". Die Stadtverwaltung, der Leiter des Archivsektors der Abteilung des Innern im Gebiet Lipetsk, Oberstleutnant Kopjonkin gingen der Bitte der Frau nach. Es begann eine Suchaktion, an der die Mitarbeiter der Abteilung des Innern von Lebedjan teilgenommen haben. Im Laufe von einigen Monaten wurde in Archiven geforscht. Man fand in den Akten mehrere wichtige Dokumente, mit deren Hilfe das Grab des Vaters von Frau Rothe gefunden werden konnte: Unter anderem die Listen der Bestatteten und der Friedhofsplan. So fand man unter der Nummer 761 den gesuchten Namen  - Günther Karl Gilbricht, geb. 1913, der Deutsche, Hauptmann, gestorben am 25.05.1946, bestattet am 26.05.1946. Mehr als 50 Jahre suchte Frau Rothe ihren Vater - und fand ihn in einer Kleinstadt der russischen Schwarzerdezone, unter wehmütigen Birken ein kleiner Grabhügel mit einem einfachen Metallschildchen. Es gibt weitere Informationen über den Verstorbenen, der als deutscher Arzt die Kriegsgefangenen betreute, aber auch im Kreiskrankenhaus von Lebedjan als Chirurg arbeitete.

Ende Mai 2005 kam ein Deutscher im fortgeschrittenen Alter, Herr Hajo Stahl, nach Lebedjan. Fast sein ganzes Leben versuchte er, Spuren seines Vaters zu finden, ein Soldat der Wehrmacht, der an der Ostfront gekämpft hatte. Im Januar 1943 wurde er, wie es im kurzen Brief eines Frontkameraden an seine Frau stand, im Kampf bei Kondorowka vermisst. 1999 wandte sich Herr Stahl an den DRK-Suchdienst, der ihm mitteilte, dass sein Vater jenen Kampf Anfang 1943 überlebte und dass er unversehrt gefangen genommen worden war. Nach einem Marsch von vielen Kilometern wurde er in das eilig eingerichtete Kriegsgefangenenlager Nr. 35 gebracht, wo er fünf Wochen später im Lazarett an Ruhr und Fieber starb. Mit der Unterstützung des Volksbundes traf sich Hajo Stahl mit einem ehemaligen Kriegsgefangenen aus dem Lager Nr. 35. Zwar kannte Rudolf, wie dieser Mann hieß, den Vater von Hajo Stahl nicht, er erzählte ihm jedoch viel über das Lager Nr. 35. Er skizzierte aus dem Gedächtnis die Lageransicht, auf deren Basis man dann den Geländeplan erstellte. So kam Hajo Stahl bei der Suche nach seinem Vater nach Lebedjan. Unweit von der Eisenbahnbrücke über den Fluss Skwirnja, auf dem mit dichtem Gras bewachsenen Feld mit bereits kaum erkennbaren Hügeln legte er einen großen Blumenstrauß an den Fundamentresten des einst hier stehenden Kreuzes nieder zum Andenken an seinen Vater, der hier seine letzte Ruhe fand.

Im Sommer 1947 wurde das Kriegsgefangenenlager Nr. 35 abgeschafft.