Erinnerungen
Nur wenige Meter von der Westseite des Lagers entfernt zieht der Don ruhig und klar seinen Lauf nach Süden. Jenseits des Don, der entlang des Stadtrands von Lebedjan einen weiten Bogen schlägt, liegt aus Sicht des Lagers westlich oben auf einer Anhöhe eine Kathedrale. Mit ihren drei bauchigen Türmen und den orthodoxen Kreuzen darauf ist sie unverwechselbar. Die Stadt Lebedjan, die die Gefangenen nie betraten, liegt ca. 3 km vom Bahnhof entfernt in südlicher Richtung auf der jenseits des Don sich erstreckenden Anhöhe. Sie befindet sich inmitten des russischen Plateaus, der großen Ebene, die ehedem selten von Bäumen bewachsen war, sondern als Steppenland vorwiegend der Viehzucht Raum bot. Lebedjan - schon damals eine Stadt von ca. 20 000 Einwohnern - liegt etwa 380 km südlich von Moskau, 50 km nordwestlich von der Bezirkshauptstadt Lipetsk und ca. 80 km nordöstlich von der nächst größeren Stadt Jelez entfernt. Das Ackerland besteht aus tiefschwarzem, fruchtbarem Boden.
Die russischen Bewacher hatten selbst kaum etwas zu essen, dennoch konnten sie mitunter mit ihren Waffen Wild erlegen und waren somit in einer besseren Versorgungssituation. Den Berichten nach waren sie streng, aber nicht unmenschlich. In schwierigen Situationen siegte meist ihr Mitgefühl mit dem Elend der Gefangenen. So war es leider häufig anzutreffen, daß auf dem 30 km langen Arbeitsweg vom Waldlager, das im Nordosten von 35/I bereits seit dem I. Weltkrieg bestand, manch völlig enträfteter Gefangener nicht weiter konnte. Gemäß Befehl durfte er nicht allein zurückbleiben, sondern sollte erschossen werden. Mitgefangene entledigten sich heimlich eines Teiles der Tagesladung an gefällten Bäumen, legten ihren Kameraden auf das Gefährt und zogen ihn mit letzter Kraft in das Lager bzw. Lazarett. Als dies bemerkt wurde, griff der Bewacher unmißverständlich zu seinem Gewehr. Die Gefangenen redeten wie mit Engelszungen auf ihn ein - mit Erfolg - und der Tross zog weiter.